Montag, 15. Dezember 2014

Stille - Kapitel 2

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Kapitel 2:


Lukas blickte von seinem Schreibtisch auf. Die Seite, die er gerade las wurde immmer wieder in rotes Licht getaucht. „Oh nein, nicht jetzt,“ dachte er bei sich, als er die rote Lampe über der Türe blinken sah. Genervt stand er auf und ging zur Zimmertür hinüber. Er öffnete sie, um zu sehen ob sich auf dem Flur bereits etwas tat. Niemand zu sehen. Missmutig schlurfte er durch den breiten Gang mit den weiß getäfelten Wänden zur Treppe hinüber. Auch über der Eingangstüre unten konnte er das rote Licht jetzt blinken sehen. Er stapfte die Treppen hinab und öffnete die Türe noch von der untersten Stufe aus. Bereits durch den schmalen Türspalt konnte er seine Schwester sehen, mit genervtem Blick, Ohrstöpseln in den Ohren und in einem furchtbar knappen Top. Sie stieß die Türe mit einer Hand vollends auf und lief an ihm vorbei. Flüchtig zeigte sie aufs Schlüsselboard – Schlüssel vergessen – und verschwand im Wohnzimmer. Lukas schlug die Türe wieder zu und ging zurück in sein Zimmer. Erleichtert darüber, dass es nicht seine Mutter war, die mal wieder am Nachmittag stockbetrunken nach Hause kam. Wieder in seinem Zimmer, setzte er sich erneut an seinen Schreibtisch. Vor ihm lag eine Broschüre mit verschiedenen Jobbeschreibungen. Er hatte sie heute in der Schule bekommen. Er war gerade bei „Kaufmann für Bürokommunikation“. Wohl eher nicht so sein Ding. Am liebsten würde er etwas analytisches machen. Im Labor stehen und Dinge analysieren. Tabellen ausfüllen, Pülverchen abwiegen, Proben erstellen. Chemielaborant, Werkstoffprüfer Metalltechnik oder sowas. Nur gab es dafür hier in der Nähe kaum Ausbildungsbetriebe. Und dann noch einen Betrieb zu finden, der ihm als Gehörlosem eine Chance geben würde, erschien ihm beinahe unmöglich. Aber er wollte auch nicht unbedingt in der Werkstätte hier anfangen. Er wollte raus in die Welt, in einen Beruf, der ihn wirklich interessierte. Er wollte nicht in eine Schreinerei oder Näherei. Er wollte auch nicht als Bürokaufmann in der Verwaltung der Werkstätte hier im Ort anfangen. Sprechen hatte er gelernt. Auch wenn es sich bei ihm holpriger anhörte, als bei Hörenden. Und er war ganz gut im Lippenlesen. Es wäre für ihn also möglich, eine normale Schule zu besuchen und in einem normalen Betrieb zu arbeiten. Die Vorbehalte der meisten Menschen waren jedoch immernoch groß. Trotzdem wollte er mit Zahlen arbeiten, die Zusammensetzung des Universums erforschen. Astrophysiker wär sein Traum. Aber dafür hätte er noch das Abitur machen und dann studieren müssen. Doch er wollte so schnell wie möglich sein eigenes Geld verdienen. Und von hier verschwinden. Seine alkoholabhängige Mutter und seine nervige, pubertäre Schwester hinter sich lassen. Er blickte sich in seinem Zimmer um. Es gab hier nichts, das er wirklich vermissen würde. Sein Zimmer war groß. So wie alles in diesem Haus. Aber es war nur spärlich eingerichtet, mit einem einfachen Holzbett, einem Schreibtisch und einem Schrank. Den Sitzsack hatte er von einem Kumpel geschenkt bekommen, der ihn nicht mehr haben wollte.. An die Wände hatte er Bilder seiner Idole gehängt. Unter anderem eine Zeichnungen von Galilei, ein Bild von Albert Einstein und eines von Brian Cox. Neben seinem Bett stapelten sich Bücher über das Universum und die Natur. Darwin, Hawking und so weiter. Trotz seiner Größe kam ihm das triste Zimmer wiedermal schrecklich erdrückend und beengend vor. Er griff nach seinem blauen Pulli, der über der Stuhllehne hing, streifte ihn geschwind über und machte sich auf den Weg nach draußen. Frische Luft machte den Kopf frei. Das Haus stand direkt am Stadtrand. Er brauchte nur bis zum Ende der Straße laufen und war direkt auf den Feldern. In einiger Entfernung konnte er bereits den Wald sehen. Hier war er gerne. Kaum Menschen, keine Autos, nur das Gras, der Himmel, ein paar Obstbäume und Pferde auf der Koppel, die sich ab und an von ihm streicheln ließen.

Als er wieder in die Straße einbog, fror er ein wenig. Der Wind, der auf den Feldern ging, war ganz schön frisch. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ging zügig zurück zum Haus. Kurz bevor er an der Gartentüre angekommen war, verlangsamte er sein Tempo. Auf der niedrigen Mauer, die das Grundstück umzäunte, saß eine Frau. Sie trug eine  beige Stickjacke. Vermutlich selbstgemacht. Einen weiten, dunkelbraunen Rock und ein beige, schwarz gemustertes Kopftuch. Als sie ihn erblickte, stand sie auf. Zögernd ging Lukas weiter auf sie zu und wollte schon an ihr vorbei um das Gartentor zu öffnen, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Nun wurde ihm etwas mulmig zu Mute. Er blickte zu ihr auf. Sie hatte eine dunkle Hautfarbe. Mit ihrer wettergegerbten Haut erinnerte sie ihn an die Indianerfrauen aus den alten Winnetou Filmen. In der anderen Hand hielt sie einen Umschlag. In schwarzer, verschlungener Schrift war darauf sein Name geschrieben. Verwundert blickte er den Umschlag an. Kannte die Frau ihn etwa? Fieberhaft überlegte er, ob er sie bereits irgendwo gesehen hatte. Als er nicht gleich danach griff, nickte die sonderbare Frau in Richtung des Umschlags und hielt ihn ihm direkt unter die Nase. Er nahm ihn ihr aus der Hand und drehte ihn herum. Außer seinem Namen war nichts darauf zu sehen. Die alte Frau nickte ihm noch einmal zu, dieses Mal zum Abschied, drehte sich um und ging die Straße runter. Verwundert blickte Lukas ihr noch einige Sekunden hinterher, steckte dann den Umschlag in seine Hosentasche und ging zurück ins Haus.
In seinem Zimmer angekommen, ließ er sich in den Sitzsack fallen und zog den Umschlag aus seiner Tasche. Ungeduldig riss er den Umschlag auf. Er war neugierig, was die alte Frau von ihm wollte. In dem Kuvert befand sich eine Einzelne, linierte A5 Seite. Er zog sie heraus, faltete sie auf und begann zu lesen.


Lieber Lukas,

entschuldige, dass ich dich vor deinem Haus einfach so überrascht habe. Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Es ist so, wir brauchen deine Hilfe. Es geht um etwas sehr wichtiges. Ich hoffe, es schreckt dich nicht ab, dass ich dir jetzt in diesem Brief nicht sagen kann, worum es geht. Nur so viel: Die Welt wird sich bald verändern, wenn wir nichts unternehmen. Sehr verändern. Und vermutlich nicht zum Positiven. Bitte erzähle niemanden von diesem Brief. Wenn du kein Interesse hast, schmeiß ihn einfach weg.
Anstonsten komm doch bitte irgendwann zu dem kleinen Fachwerkhaus neben der Bibliothek. Du kennst es bestimmt. Du kommst jeden Tag auf dem Weg zur Schule daran vorbei. Die Uhrzeit ist egal. Ich bin eigentlich fast immer da.

Liva


Nachdem Lukas den Brief drei oder vier mal gelesen hatte, legte er den Zettel aus der Hand. Die Welt wird sich verändern. Was sollte das denn bitte heißen? Und selbst wenn… was sollte er denn groß dagegen tun? Und wogegen überhaupt?

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